Sagen und Legenden aus dem Coburger Land: Die weiße Frau von Meeder

Die weiße Frau von Meeder

In Meeder, wenn man von Coburg kommt, gibt es ein Kellerhaus, das im Jahr 1522 Hermann Kiesewetter gehörte. In diesem Haus wohnte eine Witwe mit ihrem siebenjährigen Töchterchen namens Isbel. Die Frau war bekannt dafür, dass sie gerne Streit suchte und immer wieder Zwistigkeiten unter den Eheleuten im Dorf anzettelte. Isbel hingegen war wegen ihres zarten Gesichts, ihren blonden Haaren und ihrer Sanftmut sehr beliebt im Dorf. Die Kinder der reichen Bauern suchten Isbel als Spielkameradin und wenn sie bei der Butterherstellung dabei war, würde die Bäuerin ihr sicherlich eine Butterbrotschnitte anbieten, bevor sie ihren eigenen Kindern etwas gab. Während der Honigernte bekam Isbel immer die erste Honigwabe und im Sommer und Herbst die ersten Früchte von den Bäumen.

Isbels Mutter war eine rohe Frau und behandelte ihr Kind nicht gerade sanft. Deshalb hatte Isbel das Mitgefühl aller guten Seelen im Dorf. Eines Abends musste Isbel daher wieder Misshandlungen von ihrer Mutter ertragen, weil sie zu wenig Flachs gesponnen hatte und wütend war. Sie wurde früh ins Bett geschickt, aber als sie gerade einschlafen wollte, wurde sie durch ein helles Licht im Schlafzimmer wieder geweckt.

Eine Dame, die einen blendend weißen Schleier im goldenen Haar trug und deren Gesicht von einem schneeweißen, silberfunkelnden Tuch umrahmt wurde, stand an dem auf einem großen, viereckigen Stein ruhenden Ofen und rieb eine Goldmünze auf dem Stein. Sie winkte freundlich zu Isbel hinüber. Das Mädchen war sehr erschrocken von dieser Erscheinung und stieß ihre Mutter an, aber sie war tief im Schlaf und wachte nicht auf. Die Dame winkte noch einmal und verschwand, mit ihr das paradiesische Licht. Es war wieder dunkel im Schlafzimmer wie zuvor. Isbel fuhr sich mit den Händen über die Augen und fragte sich, ob sie geträumt hatte, und sank kurz darauf in einen süßen Schlaf. Am nächsten Morgen erzählte sie ihrer Mutter von der Erscheinung als Traum.

In der nächsten Nacht, als die leuchtende Erscheinung erneut erschien, noch hübscher und noch freundlicher, weckte Isbel ihre Mutter. Diese wachte auf, sah die glänzende Frau und verfluchte sie. Daraufhin verschwand die Gestalt wieder, wohl wissend vom bösen Verhalten der Mutter.

Die Mutter ging zum Pfarrer in Meeder, um ihm alles zu erzählen.

Er antwortete:

„Liebe Frau, vor Gott gibt es nichts, was unmöglich ist. Er sendet sowohl gute als auch böse Geister als Belohnung oder Bestrafung. Auch lässt er die Seelen, die irgendeine schwere Schuld auf dem Gewissen haben, nicht so schnell in seine Herrlichkeit eingehen, sondern sie müssen sich zuerst läutern, um dafür würdig zu sein. Da die Dame eine freundliche Miene zeigt, gibt es keinen Grund, sich vor ihr zu fürchten. Vielleicht will sie Isbel sogar glücklich machen. Deshalb sollte Isbel mutig zu ihr gehen, wenn die Erscheinung wieder winkt, ein stilles Vaterunser sprechen und das silberfunkelnde Brusttuch berühren.“

Dies erzählte die gierige Mutter ihrer Tochter Isbel. In der folgenden, nun dritten Nacht erschien die hübsche Lichtgestalt erneut vor Isbel.

Scheu mich nicht, du liebe Kleine
nah dich traulich mir,
denn aus meines Busens Schreine
blühet Segen dir.
Scheu mich nicht, du liebe Kleine
nah dich traulich zu mir,
da du bist so gut und reine,
bringst Erlösung mir“.

Plötzlich stieß die Mutter Isbel grob beiseite, sprang aus dem Bett und ging auf die Lichtgestalt zu, um ihr Brusttuch zu berühren. Plötzlich fiel das silberfunkelnde Tuch auf den Boden und die Lichtgestalt verschwand. Die Witwe schrie vor Angst, denn sie bildete sich ein, von einem grässlichen Totenkopf angegrinst worden zu sein.

Als Mutter und Tochter wieder zu sich gekommen waren, fanden sie das mit Edelsteinen besetzte Silbertuch auf dem Boden. Sie verkauften es und gewannen dadurch sehr viel Geld. Der bösartige Charakter der Witwe wandte sich zum Guten. Sie spendete einen Teil des Geldes an die Kirche und stiftete auch eine rote Altardecke sowie Kanzelbekleidung.

Quellenhinweis: Volksmund; Ulrich Göpfert: Damals war’s (Sagen und Geschichten aus dem Herzogtum Sachsen- Coburg und Gotha (HML-MEDIA-EDITION – die Erlebniswelt 3), 2014